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Hintergrund

Die vorliegende „Empfehlung zur Erstellung und Anwendung von Score Sheets“ wurde durch eine im Rahmen der Arbeit der Tierschutzbeauftragten NRWs gebildeten Arbeitsgruppe im Zeitraum des 2. bis 4. Quartals 2023 erarbeitet.

Dieser Arbeitsgruppe gehörten die gewählten Vertretenden der Tierhausleitenden und Tierschutzbeauftragten (Dr. Philip Dammann, Prof. Dr. Gero Hilken, Dr. Matthias Schmidt, Prof. Dr. René Tolba, Dr. Maureen Walberer) an. Der Inhalt der Empfehlung wurde bereits während der Erstellung und vor Veröffentlichung mit den Behördenvertretenden der Genehmigungsbehörde in Nordrhein-Westfalen (Landesamt für Natur-, Umwelt- und Verbraucherschutz) ausführlich diskutiert und abgestimmt. Die Empfehlungen sollen als Orientierungshilfe dienen, schließen aber möglicherweise darüber hinaus gehende erforderliche und antragsspezifische Klärungsaspekte mit der Genehmigungsbehörde nicht aus.

In Tierversuchen sind die Belastungen für die Versuchstiere auf das unerlässliche Maß zu beschränken. Aufgrund gesetzlicher Vorschriften auf europäischer als auch auf nationaler Ebene sind im Rahmen des Antragsverfahrens für Tierversuche die konkreten Abbruchkriterien zu benennen (§ 31 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1d TierSchVersV) und in der Anlage ein „Score Sheet“ beizufügen (siehe auch Antragspunkt 1.2.10. im Antrag auf Genehmigung (ggfls. vereinfachtes Verfahren) oder Anzeige (bei Zehnfußkrebsen) von Tierversuchen NRW, https://www.lanuv.nrw.de/verbraucherschutz/tierversuche/antragsunterlagen).

Grundsätzlich gelten die Empfehlungen der GV-SOLAS, die Grundzüge der guten tierärztlichen Praxis sowie die DFG-Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Abweichungen von diesen Empfehlungen können wissenschaftlich notwendig sein, müssen dann aber begründet werden.

Zielgruppen

Diese Empfehlung soll Antragstellenden und Tierschutzbeauftragten als Orientierungshilfe zur Erstellung und Anwendung von Score Sheets dienen.

Wichtige Definitionen

Belastung

Summe aller Faktoren, die direkt oder indirekt auf anatomische, physiologische, kognitive oder emotionale Zustände wirken und kurzzeitig oder dauerhaft zu Schmerzen, Leiden (Distress, z.B. Angst) oder Schäden führen.1

Belastungsgrad

Tierversuche müssen gemäß der EU-Richtlinie 2010/631 und der seit 2013 in Deutschland gültigen Tierschutz-Versuchstierverordnung (TierSchVersV)2 in unterschiedliche Belastungsgrade eingeteilt werden. Anhand der Schwere der Einzelbelastungen, deren Häufigkeit und Dauer sowie der Summierung (Kumulation) und/oder Wechselwirkung der Einzelbelastungen (im Sinne einer gegenseitigen Beeinflussung: z.B. Phänotyp einer genetisch veränderten Linie führt zu einer stärkeren Reaktion auf eine Behandlung) wird für das Versuchsvorhaben ein maximaler Gesamt-Schweregrad („gering“, „mittel“ oder „schwer“) prospektiv abgeschätzt, der mindestens dem höchsten Einzel-Schweregrad entspricht (prospektive Belastungseinschätzung). Dieser Schweregrad wird im Rahmen des Genehmigungsverfahrens des Tierversuches durch die §15-Kommission und das LANUV als Genehmigungsbehörde in NRW überprüft. In der jährlichen Versuchstiermeldung wird der tatsächlich aufgetretene maximale Belastungsgrad jedes individuellen Tieres gemeldet

Aktuelle Belastungsbeurteilung

Einschätzung der Belastung für einzelne Tiere zum aktuellen Zeitpunkt im Versuchsverlauf oder in genehmigungspflichtigen Zuchten.3

Abbruchkriterien/ Humaner Endpunkt / Belastungsgrenze

Die Beschränkungen der Schmerzen und des Leidens, die ein Versuchstier erleiden darf, innerhalb des Rahmens der wissenschaftlichen Endpunkte, die erreicht werden müssen.4 Sie dienen zur Definition von Kriterien für einen Versuchsabbruch bzw. den versuchsspezifischen humanen Endpunkt.2

Versuchsabbruch

Sofortiges Einstellen des laufenden Versuchs für das betroffene Tier und Prüfung, ob eine Euthanasie notwendig ist.³ Ein Versuchsabbruch muss nicht zwangsläufig die Euthanasie des Tieres bedeuten, sondern kann auch Interventionen bedingen wie bspw. das Anwenden einer (versuchsbeeinflussenden) Analgesie oder das Absetzen eines Medikamentes.

Zielsetzung von Score Sheets

Es muss bereits bei Antragstellung, d.h. vor Versuchsbeginn, antizipiert werden, welche konkreten Belastungen für die Versuchstiere erwartet und die Unerlässlichkeit dieser Belastungen wissenschaftlich begründet werden. Außerdem muss festgelegt sein, ab welchem Punkt diese Belastungen nicht mehr zu tolerieren sind (Abbruchkriterien / Humaner Endpunkt / Belastungsgrenze). Diese Belastungsgrenze ist so niedrig wie möglich anzusetzen. Ein Erreichen der genehmigten Belastungsgrenze ist durch das Score Sheet zu erkennen und zu ergreifende Maßnahmen einzuleiten. Hierzu sind Handlungsanweisungen zu formulieren, die beim Erreichen der erwarteten Belastungsgrenze die Belastung des Tieres unmittelbar reduzieren, z.B. durch geeignete therapeutische oder Refinement-Maßnahmen. Falls dies nicht möglich ist, ist der Versuch für das betroffene Tier abzubrechen (=Versuchsabbruch).1 Ist eine Erhöhung der genehmigten Belastungsgrenze zum Erreichen des Versuchszieles unabdingbar, so ist diese Änderung bei der Genehmigungsbehörde i.d.R. zu beantragen. Das genaue Vorgehen ist mit dem LANUV individuell abzusprechen.

Was können Score Sheets leisten?

  • Sie dienen zur Definition von Kriterien für einen Versuchsabbruch bzw. den versuchsspezifischen humanen Endpunkt, sowie die Belastungsgrenze, die toleriert werden muss, um das Versuchsziel zu erreichen. Der Tod ist als Endpunkt eines Verfahrens möglichst zu vermeiden und durch frühe und möglichst schmerzlose Endpunkte zu ersetzen.2 Weiterhin werden in Score Sheets Refinement-Maßnahmen festgelegt, um die Belastungen für Tiere im Versuch zu reduzieren.
  • Sie sollen helfen, anhand festgelegter Kriterien zu beurteilen, ob ein versuchsspezifischer humaner Endpunkt erreicht ist und daraus folgend ein Versuchsabbruch erforderlich ist.
  • Sie sollen helfen, durch definierte Beobachtungsintervalle und stimmige Beobachtungsparameter, Belastungen bei den Tieren frühzeitig zu erkennen und angemessen zu reagieren. Die Beobachtungsintervalle müssen die aktuelle Belastungsbeurteilung berücksichtigen und entsprechend gewählt bzw. angepasst werden.
  • Sie sind so zu verfassen, dass alle Personen, die an einem Versuchsvorhaben beteiligt sind, diese gleichermaßen anwenden können, um eine größtmögliche Objektivität anzustreben. Sie müssen daher sowohl verständlich als auch eindeutig formuliert sein und eindeutige Handlungsanweisungen enthalten.
  • Sie können zur Überprüfung und -falls erforderlich- zur Korrektur der prospektiven Belastungseinschätzung sowohl während des laufenden Versuchsvorhabens als auch retrospektiv herangezogen werden.

Grenzen von Score Sheets

  • Score Sheets sind ohne Validierung nicht geeignet, den tatsächlich bestehenden Belastungsgrad des Einzeltieres zu bestimmen.5 Dies erfordert eine sachkundige Diagnose des Tieres vor Ort, in der alle real auftretenden Belastungen unter Berücksichtigung der Begleitumstände, unter denen sie auftreten, für ein Gesamtbild des Tieres erfasst werden. Score Sheets sind im Verlauf eines Versuchs fortlaufend zu überprüfen und ggfs. anzupassen, um die tatsächlich auftretende Belastung eines Tieres möglichst objektiv zu erfassen.3
  • Bedingt durch die subjektive menschliche Beobachtung, die abhängig ist von der Erfahrung des Untersuchers (Interobserver-Variabilität), kann es zu unterschiedlichen diagnostischen Befunden kommen (bspw. Punktzahl bei Beurteilungen der äußeren Erscheinung ist unterschiedlich).
  • Trotz maximaler Sorgfalt kann es zu unvorhersehbaren Verläufen und spontanen Todesfällen kommen. In diesen Fällen muss eine sachkundige Person hinzugezogen werden und -wenn möglich- die Todesursache ermittelt werden, damit weitergehende Maßnahmen ergriffen werden können.

Was sind die Inhalte von Score Sheets?

1. Auflistung der potenziell im Versuch zu erwartenden Belastungsanzeichen und deren Gewichtung (z.B. über ein Punktesystem) und zu ergreifende Maßnahmen bei Erreichen einer bestimmten Punktzahl bzw. Kriterien wie auch deren Dauer.

2. Definition von Abbruchkriterien bzw. humanen Endpunkten: Ziel ist es, den Tod als Endpunkt eines Verfahrens wann immer möglich zu vermeiden und durch frühe und möglichst schmerzlose Endpunkte zu ersetzen.2 Abbruchkriterien / humane Endpunkte sind so zu wählen, dass eine Überschreitung der für das Erreichen des Versuchsziels unerlässlichen Belastungsgrenze möglichst verhindert wird. Je nach Versuch und Tiermodell sind adäquate Endpunkte zu definieren.

3. Das Erreichen eines Abbruchkriteriums bzw. eines Gesamtscores, der zum Versuchsabbruch führt, ist nicht notwendigerweise mit einer schweren Belastung gleichzusetzen!

4. Definition des Versuchsabbruchs: Sofortiges Einstellen des laufenden Versuchs für das betroffene Tier und Prüfung, ob eine Euthanasie notwendig ist. Ein Versuchsabbruch muss nicht zwangsläufig die Euthanasie des Tieres bedeuten, sondern kann auch Interventionen bedingen wie bspw. das Anwenden einer (versuchsbeeinflussenden) Analgesie oder das Absetzen eines Medikamentes.

5. Definition der Kontrollintervalle/Scoringintervall: Festlegung von sinnvollen Zeitpunkten für die Überwachung des Tieres bzw. des Versuchs und deren Häufigkeit, auch unter Berücksichtigung der aktuellen Belastungsbeurteilung.

6. Definition der Bestimmungshäufigkeit (insbesondere versuchs-) spezifischer Parameter, die ggfs. abweichend von den Scoringintervallen erhoben werden (z.B. Intervalle der Körpergewichtsbestimmung oder Tumorvermessung etc.)

7. Definition von geeigneten Haltungs-, Pflege- und/oder therapeutischen Maßnahmen beim Auftreten von festgelegten Symptomen.

8. Definition von konkreten Handlungsanweisungen: Handlungsanweisungen sind so zu formulieren, dass bei Erreichen der zuvor definierten Belastungsgrenze Refinement-Maßnahmen ergriffen werden, die dazu führen, dass die Belastungen reduziert werden. Falls dies nicht möglich ist, ist der Versuch für das betroffene Tier abzubrechen. Kriterien, die eine unverzügliche schmerzfreie Tötung erfordern, müssen im Score Sheet im Sinne einer Handlungsanweisung eindeutig definiert werden.

9. Festlegung des Vorgehens im Fall von unerwartet auftretenden Belastungen (bspw. Hinzuziehen eines Tierarztes/einer Tierärztin)

Was ist bei der Anwendung von Score Sheets im Versuchsvorhaben zu beachten?

  • Das von der zuständigen Behörde als Bestandteil des Tierversuchsantrags genehmigte Score Sheet ist uneingeschränkt im Versuchsablauf anzuwenden.
  • Unabhängig von den angegebenen Abbruchkriterien ist der Versuch abzubrechen und das betroffene Tier tierschutzgerecht zu töten, wenn dies aufgrund des Zustandes des Tieres nach der Einschätzung der / des Tierschutzbeauftragten aus Tierschutzgründen unerlässlich ist.
  • Bei Unklarheiten in der Anwendung des genehmigten Score Sheets muss der Versuchsleiter / die Versuchsleiterin mit der / dem Tierschutzbeauftragten und/oder dem verantwortlichen Tierarzt / der verantwortlichen Tierärztin eine Entscheidung herbeiführen.
  • Treten unerwartete Symptome auf, die nicht im Score Sheet berücksichtigt wurden, ist der verantwortliche Tierarzt / die verantwortliche Tierärztin und / oder der / die zuständige Tierschutzbeauftragte hinzuziehen und das Score Sheet entsprechend anzupassen. Diese Veränderung muss der zuständigen Behörde angezeigt werden.
  • Ist eine Erhöhung des genehmigten, prospektiven Belastungsgrades zum Erreichen des Versuchszieles unabdingbar, so ist diese Änderung bei der Genehmigungsbehörde zu beantragen.

Literatur & Download

1 Richtlinie 2010/63/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftlichen Zwecke verwendeten Tiere, Erwägungsgrund (14)


2
Tierschutz-Versuchstierverordnung vom 1. August 2013 (BGBl. I S. 3125, 3126), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 11. August 2021 (BGBl. I S. 3570) geändert worden ist


3
Stellungnahme aus dem Ausschuss für Tierschutzbeauftragte „Möglichkeiten der Belastungsbeurteilung im Tierversuch“, Stand Februar 2020


4
Wallace J. Humane endpoints and cancer research. ILAR J. 2000;41(2):87-93. doi: 10.1093/ilar.41.2.87. PMID: 11417496


5
Talbot SR et al., Defining body-weight reduction as a humane endpoint: a critical appraisal. Lab Anim. 2020 Feb;54(1):99-110. doi: 10.1177/0023677219883319. Epub 2019 Oct 30. PMID: 31665969.

Sie können das "Empfehlung zur Erstellung und Anwendung von Score Sheets (NRW-Tierschutzbeauftragte)" hier als PDF-Dokument herunterladen.